Fotos: Lalida Große | Artikel: Sven Goldmann
9. regioTalk, 27. April 2023 im Gutshaus Steglitz
Wachstumsmarkt Radtourismus - aktuelle Deutschlandtrends und Erfolgsmodelle aus Berlin und Brandenburg
Christian Tänzler ist mit dem Fahrrad gekommen. Wie sich das so gehört für einen Bundesvorstand des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC), der beim 9. RegioTalkdes RIK Südwest (der dieses Mal in Zusammenarbeit mit dem Tourismusdialog BerlinBerlin veranstaltet wurde) im Gutshaus Steglitz über Radtourismus reden will. „Schade, dass es hier keine Radabstellanlage vor der Tür gibt“, sagt Tänzler zur Begrüßung zum RIK-Chef Professor Frank Schaal, aber auch das mag seine Laune kaum trüben. Die Sonne strahlt mit dem Kronleuchter im Rokokosaal des Gutshauses um die Wette, und passend zu diesem perfekten Radfahrwetter hat Christian Tänzler beeindruckende Zahlen mitgebracht. 4,6 Millionen Menschen haben in Deutschland im vergangenen Jahr eine Radreise unternommen, mit mindestens drei Übernachtungen, dazu kommen noch einmal 38 Millionen Tagesausflüge. In den Zeiten der Pandemie sind die Leute verstärkt aufs Rad gestiegen. „Es war nicht alles schlecht an Corona“, sagt Christian Tänzler, und da lacht auch die Steglitz-Zehlendorfer Bürgermeisterin Maren Schellenberg, sie sitzt vorn in der dritten Reihe rechts.
Warum radeln immer mehr Deutsche? Und das sogar in Großstädten wie Berlin, wo die vielen Autos auf den ersten Blick nicht gerade dazu einladen. Christian Tänzler sagt dazu erstmal, dass er gar nichts gegen das Auto habe, „denn die Verkehrswende schaffen wir nur, wenn wir gemeinsam arbeiten“. Außerdem gebe es nicht nur den einen spezifischen Radtourismus, sondern eine ganze Reihe davon. Radtouristen wollen mehr von Land und Leuten sehen, und das möglichst günstig. Sie wollen aktiv im Urlaub sein, etwas für die Gesundheit tun, gern auch mit dem Lastenrad, dem E-Bike oder dem Gravelbike, einer Art Hybrid zwischen Mountainbike und Rennrad, dem neusten Trend auf einem ständig wachsenden Markt. Und sie wollen auch Städte besser kennenlernen, ganz besonders so aufregende wie Berlin, und das über Fernsehturm, Brandenburger Tor und Reichstag hinaus. An diesem Punkt kommt Antje Boshold ins Spiel.
Antje Boshold ist Projektkoordinatorin im Berliner Zentrum Industriekultur (bzi). In ihrem anregenden Vortrag schwärmt sie vom Charme des riesigen Freilichtmuseums der Industriekultur, denn genau das ist Berlin, auch wenn es kaum jemand weiß. Die Elektropolis Berlin hat ihre großen Tage hinter sich, aber ihre Hinterlassenschaften sind immer noch zu bestaunen. Zum Beispiel auf fünf Fahrradrouten, das bzi hat sie mit jeweils 20 bis 25 Kilometer Länge konzipiert und erzählt dabei spannende Geschichten von Spandau bis Oberschöneweide, von Wedding bis Tempelhof.
Nun gibt es wahrscheinlich nicht allzu viele Leute, die früh morgens aufwachen und sich denken: Heute besichtige ich mal die Industriekultur! Aber in Kombination mit einer Radtour sieht das schon ganz anders aus. „Auf diesem Weg können wir ein breiteres Publikum ansprechen“, sagt Antje Boshold. „Ich bin Berlinerin und dachte immer, dass ich meine Stadt ganz gut kenne. Aber durch die Touren habe ich so viele tolle Gebäude erst richtig verstehen gelernt. Wussten Sie, dass zum Beispiel die Volksparks nur durch Industrialisierung entstanden sind, weil die Arbeiter sich ja auch irgendwo erholen mussten? Es gibt so viele interessante Querverweise!“ Merke: Man sieht nun, was man weiß!
90 magische Orte finden sich auf den fünf Routen. Etwa der AEG-Versuchstunnel am Humboldthain, das Umspannwerk Scharnhorst oder der Gasometer Fichtestraße, alles Etappenziele von Tour Nummer 1, die nicht zufällig den schönen Namen „Warmes Licht und kühles Bier“ trägt, denn auch der kulinarische Teil soll nicht zu kurz kommen. 35 ausgesuchte Gaststätten säumen die Routen. In nicht allzu ferner Zukunft soll das Projekt in einer Europäischen Radroute der Industriekultur von Frankreich über Deutschland nach Polen aufgehen, die Planung läuft.
„Was gibt’s denn da bei uns im Südwesten“, will eine Frau aus dem Publikum wissen, und Antje Boshold erzählt begeistert von einer Route entlang des Teltowkanals, „und der Grunewald kommt auch noch dran“, aber darüber soll jetzt noch nicht zu viel verraten werden. Im abschließenden Podiumsgespräch mit Michael Pawlik, dem Leiter der Abteilung Wirtschaftsförderung im Bezirk Steglitz-Zehlendorf, und Dirk Wetzel, Teamleiter bei der Tourismus-Marketing Brandenburg, diskutiert das Publikum so intensiv und leidenschaftlich wie selten bei den gewohnt intensiven und leidenschaftlichen Diskussionen des RegioTALKs. Gegen Ende der Veranstaltung, als schon fast alle Fragen beantwortet sind, schaut der ADFC-Bundesvorstand hinaus aus dem östlichen Flügelfenster des Gutshauses, vor dem doch tatsächlich ein paar Räder in einer bestens dafür geeigneten Anlage abgestellt sind. Christian Tänzler lächelt und schickt eine gespielte Entschuldigung hinüber zum RIK-Chef Frank Schaal. Was für ein gelungener Abend!